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Der seltsame Kurswechsel der Comdirect im Geschäft mit Wertpapier-Krediten

Der Wertpapierkredit ist eigentlich ein simples Produkt. Wer als Kunde über ein Depot verfügt, überlässt der Bank die darin befindlichen Wertpapiere als Sicherheit – und bekommt im Gegenzug einen Kredit. Auch bei der Comdirect war das immer so. Aktuell jedoch, das zeigen Recherchen von Finanz-Szene, legt der Quickborner Online-Broker bei der Vergabe von Wertpapierkrediten einen ziemlichen Kurswechsel hin.

In mehreren Wellen fordert die Commerzbank-Tochter sämtliche betroffenen Kunden (also sämtliche Kunden mit einem Wertpapierkredit-Rahmen) dazu auf, den neuen AGBs des Instituts zuzustimmen – und damit zwei Verpflichtungen einzugehen, von denen bislang keiner Rede war:

  1. Die Kunden sollen eine ausführliche Selbstauskunft zu Einkommen und Vermögensverhältnissen abgeben.
  2. Die Kunden sollen der Bank erlauben, sich per Schufa-Abfrage über ihre Bonität informieren zu dürfen.

Im Geschäft mit Wertpapierkrediten ist dieses rigorose Vorgehen bislang unüblich. Was mehrere Fragen aufwirft: Was macht die Comdirect, die Wertpapierkredit-Linien von weit mehr als 1 Mrd. Euro in ihren Büchern stehen haben dürfte, da eigentlich? Was verspricht sie sich davon? Wie sieht es bei der Konkurrenz aus? Und wie reagieren die Kunden, wie geht es weiter?

Hier die Resultate unserer Recherche:

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1.) Die Vorgeschichte

Bei der Maßnahme handelt es sich nach Informationen von Finanz-Szene um eine Reaktion auf eine herbe Schlappe, die die Comdirect vor gut einem Jahr bei einem Gerichtsverfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht in Schleswig erlitten hatte. Das Thema seinerzeit: Die Bank hatte Aktien eines Kunden in den Turbulenzen der Corona-Pandemie zwangsliquidiert – Aktien, deren Kurse sich anschließend wieder rasch erholten, weshalb der Kunde gegen die Liquidierung klagte.

Zu Recht, befand das Gericht (siehe auch unsere Berichterstattung aus dem Januar 2022: „Margin Call“-Schlappe der Comdirect – dieses Urteil erschwert das Brokerage“). Konkret hielt das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht laut seinem Urteil die Formulierungen zur Vergabe von Wertpapierkrediten in den AGBs der Comdirect für nichtig. In der strittigen Klausel hieß es sinngemäß: Weil die Comdirect die Deckungsrelationen – vereinfacht gesprochen: die Höhe der Sicherheit je nach gehaltener Wertpapierart eines Wertpapierkredits – jederzeit ändern konnte, seien diese Sätze „formnichtig“. Hieß übersetzt für Nichtjuristen: Die Comdirect nimmt sich mithilfe ihrer AGBs viel zu viel heraus: Sie kann die Kreditbedingungen ändern, über das Eigentum der Kunden verfügen und die Erlöse aus dem selbst initiierten Zwangsverkauf vereinnahmen. Den Richtern in Schleswig ging das zu weit.

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2.) Die Reaktion der Comdirect

Seit dem Sommer schreibt die Comdirect Kundinnen und Kunden mit Wertpapierkrediten an und fordert sie zu umfangreichen Dokumentationen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf sowie zur Zustimmung zu neuen Bedingungen – einschließlich der Tatsache, dass die Kredite der Schufa gemeldet werden.

Nicht im Anschreiben, aber auf individuelle Nachfragen hin erklärt die Comdirect die neuen Bedingungen mit „regulatorischen Anforderungen“, konkret den „Leitlinien für die Kreditvergabe und Überwachung (EBA/GL/2020/06)“.

Ob die entsprechende Leitlinie allerdings tatsächlich zwingend umfangreiche Einkommens- und Vermögensnachweise vorsieht und ob diese vor allem auch von Bestandskunden erhoben werden sollen, darüber lässt sich juristisch streiten. Vor dem Abschluss eines Darlehensvertrags sollten (Hervorhebung von uns, d. Red.) die Institute und Kreditgeber über ausreichende, genaue und aktuelle Informationen und Daten verfügen, um die Kreditwürdigkeit und das Risikoprofil des Kreditnehmers zu beurteilen“, heißt es etwa in der Leitlinie. Und auch: „Im Falle besicherter Darlehen sollten die Sicherheiten allein nicht das Hauptkriterium für die Genehmigung eines Darlehens darstellen und nicht für sich alleine die Genehmigung von Darlehensverträgen rechtfertigen.“ 

Fest steht jedenfalls: Die Comdirect fordert die Nachweise von allen Wertpapierkredit-Kunden ein. Das bestätigt sie auf Nachfrage. Zu den Gründen und Motiven hinter diesem Schritt sagt sie über einen allgemeinen Hinweis auf die „regulatorischen und verbraucherschutzrechtlichen Anforderungen“ hinaus nichts Näheres.

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3.) Wie gehen die Wettbewerber vor?

Aus dem Umfeld von Wettbewerbern heißt es, dass diese sich zwar in aller Regel grundsätzlich das Recht einräumen lassen, Einkommens- und Vermögensnachweise abzufordern, dies aber nicht routinemäßig, sondern nur bei sehr hohen sechsstelligen Kreditbeträgen auch tatsächlich tun. Die Regel ist vielmehr, dass Wertpapierkredite auf Basis der Höhe und der Risikoklasse der gehaltenen Wertpapiere eingeräumt werden.

  • So agiert beispielsweise der Neobroker Scalable Capital seit Herbst und gewährt die zugrundeliegenden Wertpapierkredite automatisiert. Auf Nachfrage heißt es explizit: „Der Kredit kann schnell und vollständig digital beantragt werden. Da Kreditbeträge mit den im Depot gehaltenen Wertpapieren besichert sind, ist etwa die Angabe von Einkommensnachweisen nicht erforderlich.“
  • Ähnlich geht auch die Consorsbank vor, die laut ihren AGB bei Wertpapierkrediten Wertpapiere bis zu einem Gesamtwert von 750.000 Euro beleihen lässt.
  • Bei FlatexDegiro begnügt man sich in der Regel auch mit den Wertpapieren als Sicherheit.

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4.) Warum geht die Comdirect anders vor als der Wettbewerb?

Ein zumindest denkbarer Zusammenhang: Die Comdirect möchte mit der strengen Verknüpfung eines Kredits auch an die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sicherstellen, dass sie den gewährten Kredit im Krisenfall auch sicher zurückgezahlt bekommt, ohne auf die (juristisch angefochtene) Zwangsliquidation von Wertpapieren angewiesen zu sein. Das gilt umso mehr, als dass die Comdirect von der Commerzbank als beratungsfreies Digitalangebot positioniert werden soll und folglich auch auf streng automatisierte Prozesse angewiesen ist, die keine individuellen Spielräume und Einzelfall-Entscheidungen nötig machen (wie zu der Frage, von wem ausführliche Sicherheiten gefordert werden und von wem nicht).

Zumindest im Umfeld eines Wettbewerbers ist zu hören, dass die Einführung von Einkommens- und Vermögensauskünften bei Neukrediten respektive Neukunden überdacht wird. Auch kursiert die Theorie, dass ein Verzicht auf die Auskünfte im Schadensfall juristisch anfechtbar sein könnte – in diesem Fall hätte die Comdirect alles richtig gemacht. Fest steht so oder so: Die Comdirect agiert – möglicherweise auch aufgrund der juristischen Schlappe – in Sachen Wertpapierkredit äußerst defensiv.

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5.) Um wie viele Kunden geht es – und wie reagieren sie?

Wie viele Kundinnen und Kunden bei der Comdirect einen Wertpapierkredit nutzen, ist unbekannt. Die Bank ist seit der Vollübernahme durch die Commerzbank 2020 zur Marke geschrumpft und bilanziert nicht mehr separat. Im letzten Abschluss des Jahres 2019 und damit vor Beginn des Wertpapierbooms wies die Comdirect indes „außerbilanzielle Verpflichtungen“ von 1,4 Mrd. aus und kommentierte: „Hierbei handelt es sich um Kreditlinien für Wertpapierkredite, die als unwiderrufliche Kreditzusagen einzustufen sind.“

Der Comdirect dürften durch ihre neue Maßnahme signifikante Summen an Wertpapierkrediten und Wertpapierkredit-Linien verloren gehen – entweder, weil Kundinnen und Kunden die Aufforderung zur Zustimmung zu den AGBs ignorieren oder weil sie nicht bereit sind, ausführliche Selbstauskünfte zu erteilen. Oder aber (und ein entsprechender Fall liegt Finanz-Szene vor) die Comdirect streicht nach Erteilung der Auskünfte schlicht die Wertpapierkredite, weil das Depot alleine nicht mehr als Sicherheit ausreicht (zum Beispiel bei einem älteren Kunden).

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