von Heinz-Roger Dohms und Christian Kirchner, 3. März 2021
Um dem Ernst der Lage gerecht zu werden, sollten wir – bevor wir gleich dazu kommen, was gestern passiert ist – erst einmal betonen, was gestern nicht passiert ist: Also, 1.) Die britische Greensill Capital hat gestern keine Insolvenz angemeldet; 2.) Die Bafin hat die in Bremen ansässige Greensill Bank AG gestern nicht unter Moratorium gestellt (auch wenn die “Financial Times” spekulierte, dass dies “bald” geschehen könnte); und 3.) Niemand hat bislang den Einlagensicherungs-Fall ausgerufen.
Punkt? Punkt.
Und nun zu dem, was gestern eben doch passiert ist. Und zu ein paar Fragen, die sich aufdrängen. Zum Beispiel: Welche Rolle spielen die Fintechs im Greensill-Drama. Und zwar nicht nur die Einlagen-Broker wie “Weltsparen” oder “Zinspilot”. Sondern auch die sogenannten “Supply Chain Finance”-Fintechs. Unser “Deep Dive”:
Bei “Supply Chain Finance” handelt es sich um einen Sammelbegriff für die Finanzierung von Lieferketten. Für das grundsätzliche Verständnis sind vor allem die beiden folgenden Spielarten relevant:
Vor einigen Jahren verfielen Startups auf die Idee, speziell das Reverse-Factoring aus dem klassischen Kontext herauszureißen und stattdessen über Plattformen abzubilden.
Eines der größten “Supply Chain Finance”-Fintechs ist Taulia, ein von Deutschen gegründetes amerikanisches Unternehmen mit einer starken Präsenz auch in Europa. In Presseartikeln wurden in der Vergangenheit zum Beispiel Lidl und Henkel als Kunden genannt; auch Aldi soll dazugehören. Nach Informationen von Finanz-Szene.de stehen angeblich auch Rewe und Otto kurz davor, mit Taulia ins Geschäft zu kommen. Die genannten hiesigen Unternehmen wollten hierzu gestern keine Stellung nehmen oder reagierten nicht auf unsere (allerdings auch erst am Nachmittag gestellte) Anfrage; vonseiten Taulias hieß es, man nehme zu Kundenbeziehungen keine Stellung.
Das Prinzip, mit dem Taulia groß wurde, ist das “Dynamic Discounting”, das in seiner Reinform ohne Banken bzw. Factoring-Unternehmen auskommt. Stattdessen setzen die Abnehmer auf der Taulia-Plattform ihre eigene Liquidität ein, um Verbindlichkeiten gegenüber Lieferanten zu begleichen. Im Gegenzug räumen die Lieferant ihren Abnehmern ein “dynamisches” Skonto ein.
In der Theorie sorgt das dynamische Skonto dafür, dass Abnehmer und Lieferant stets einen Preis finden, zu dem der eine die Forderung des anderen begleicht. In der Praxis können allerdings Situationen auftreten, in denen der Abnehmer die notwendige Liquidität nicht bereitstellen kann oder will. Damit die Plattformen ihr Leistungsversprechen gegenüber den Lieferanten trotzdem halten können, brauchen sie irgendeine Form von “Third Party Funding”. Die Quelle hierfür können wie in der klassischen “Supply Chain Finance” Banken oder spezialisierte Factoring-Unternehmen sein – oder aber: finanzstarke Unternehmen aller Art. Also beispielsweise: Greensill.
Das wissen wir nicht. Laut Medienberichten (wie diesem hier) hatte Taulia allerdings eine Zeitlang (genauer: bis Ende 2019) eine Exklusiv-Vereinbarung mit Greensill. Das heißt, so wurde es uns jedenfalls gestern von Brancheninsidern geschildert: Das “Third Party Funding” auf der Taulia-Plattform stellte Greensill zur Verfügung. In welchen Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen diese Mittel konkret zum Einsatz kamen, ist unklar – ebenso wie die Frage, ob Greensill auch mit anderen “Supply Chain Finance”-Plattformen zusammenarbeitete. Dass Greensill ein wichtiger Akteur in diesem Metier war (und ist), dürfte allerdings außer Frage stehen.
Denn nur zu Erinnerung:
Eine Sprecherin von Taulia betonte gestern Abend auf Anfrage von Finanz-Szene.de, Greensill sei lediglich einer von diversen Funding-Providern. Andere seien zum Beispiel JP Morgan oder die Unicredit.
Die Credit Suisse und GAM haben, vereinfacht gesprochen, Investmentfonds aufgelegt, welche das Geschäft von Greensill überhaupt erst finanziert haben. Das konnte konkret so aussehen, dass besagte “Special Purpose Vehicles” von Greensill beispielsweise Schuldverschreibungen emittierten, die dann wiederum von den Fonds aufgekauft wurden.
Idealerweise nährt sich dieses Geschäft von alleine: Es entstehen Rückflüsse zuzüglich Zins von bereits ausgegebenen Schulverschreibungen – und dieses Geld kann dann wiederum in neue Handelsforderungen gesteckt werden. Aufgrund der kurzen Laufzeiten (entsprechend den Zahlungszielen der Lieferanten beispielsweise 30, 60 oder 90 Tage) können die Papiere in der Theorie stets bis zur Fälligkeit gehalten und ihre Tilgungen refinanziert werden. Die typischen “Supply Chain Finance”-Fonds wiesen extrem niedrige Volatilitäten bei stetigen Kurszuwächsen in der Größenordnung von 5% pro Jahr auf – wobei die lineare Kursentwicklung manche Marktbeobachter dann doch eher skeptisch machte.
Die Fonds der Credit Suisse und von GAM waren eine Funding-Quelle für Greensill; deutsche Sparer waren eine andere.
Diese Sparer erreichte Greensill (bzw. die Greensill Bank AG) vor allem über zwei Portale, nämlich “Weltsparen” (dahinter steht der Berliner Einlagen-Broker Raisin) und “Zinspilot” (das ist das B2C-Portal des Hamburger Raisin-Wettbewerbers Deposit Solutions). Auf Anfrage von Finanz-Szene.de sagte eine Raisin-Sprecherin, rund 15.000 Anleger hätten insgesamt “mehrere hundert Mio. Euro” bei der Greensill Bank angelegt. Damit dürfte das Bremer Geldinstitut zu den größten Abnehmern von “Weltsparen” gehören. Ein Sprecher von Deposit Solutions lehnte eine Stellungnahme ab.
Am Dienstag Abend dann verschwand allerdings Angebot der Greensill-Bank von der “Weltsparen”-Website. “Die Angebote wurden in Absprache mit der Greensill Bank AG auf der weltsparen.de-Plattform bis auf Weiteres für Neukunden sowie Verlängerung auslaufender Festgelder deaktiviert”, so eine Sprecherin. Später korrigierte sie diese Aussage dahingehend, dass Verlängerungen bestehender Gelder weiterhin möglich seien.
Per Ende 2019 hatte die Greensill Bank rund 3,3 Mrd. Euro Verbindlichkeiten gegenüber Kunden. Laut Scope kamen 73% der Einlagen von institutionellen Anlegern, 27% (mithin also knapp 1 Mrd. Euro) über Retail-Plattformen. Die bei “Weltsparen” und “Zinspilot” aufgerufenen Konditionen zuletzt: 0,03 Prozent Zins für Tagesgeld, 0,25% Zins für Festgeld über ein Jahr.
Schwer zu sagen. Gemunkelt wurde schon länger, etwa über die teils sehr guten Angebote, die die Greensill Bank AG den Zinsjägern bei “Zinspilot” oder “Weltsparen” machte. “Da hat man sich schon gefragt, wie sich solche Fundingkosten rechtfertigen lassen”, sagt einer aus der “Supply Chain Finance”-Szene.
Ein weiteres Rätsel: Das “Supply Chain Finance”-Modell, wie wir es weiter oben am Beispiel von Taulia skizziert haben, macht ja zunächst einmal einen eher konservativen Eindruck. Die Schuldner? Große Retailer. Die Laufzeiten? Ein paar Wochen oder allenfalls Monate. Das mutet nicht nach Harakiri an. Wie viel Geld ist möglicherweise aber eben nicht in die eher biedere Handelsfinanzierung geflossen? Und wie viel beispielsweise in Firmen aus dem Umfeld des indisch-britischen Stahlmagnaten Sanjeev Gupta, dessen Namen in der Vergangenheit immer wieder im Zusammenhang mit Greensill gefallen ist.
Genau an solchen Verflechtungen soll sich seit geraumer Zeit auch die Bafin gestört haben.