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„Margin Call“-Schlappe der Comdirect – dieses Urteil erschwert das Brokerage

Der deutschen Bankenbranche drohen infolge eines öffentlich bislang öffentlich unbeachteten Gerichtsurteils strengere juristische Restriktionen in ihrem Retail-Brokerage. Es geht dabei um den Umgang mit Wertpapierkrediten, bei denen die Kunden die erworbenen Aktien als Sicherheit bei der Bank hinterlegen.

In dem konkreten Fall hatte ein Kunde der Comdirect kurz vor dem Corona-Crash für 350.000 Euro Deutsche-Bank-Aktien erworben – und zwar zu einem Einstandspreis von 16,93 Euro je Aktie. Zur Finanzierung nahm der Anleger einen Wertpapierkredit über 100.000 Euro in Anspruch. Im Zuge des Corona-Crashs stürzte die Aktie im März 2020 dann jedoch unter 6 Euro. Weil nur 70% des Kurswerts als Beleihungswert herangezogen werden dürfen, sank der tatsächliche Beleihungswert der Papiere auf nur noch gut 85.000 Euro.

Die Comdirect forderte den Kunden auf, die „Deckungsrelationen“ wieder herzustellen – sprich: Geld oder Aktien nachzuschießen. Ein durchaus üblicher Vorgang, im Bankenjargon auch „Margin Call“ genannt. Als die Comdirect nichts von ihrem Kunden hörte, liquidierte sie am 23. März zwei Drittel der Aktien, genauer: 12.923 Stück – für einen Gesamterlös von 71.418 Euro. Machte einen rechnerischen Verkaufskurs von 5,53 Euro. Ein Riesenverlustgeschäft also. Der Kunde setzte sich juristisch zu Wehr, doch die Bank berief sich auf ihre AGB.

Genau dieser Praxis könnte das besagte Urteil (es erging bereits im September vor dem OLG Schleswig-Holstein) nun jedoch ein Ende bereiten. Und wie das Gericht selbst festhält, ist die Klausel, auf die sich die Comdirect beruft, in ähnlicher Form auch in anderen Häusern verbreitet. Setzt sich die Rechtsauffassung des OLG also durch, könnten Deutschlands Banken künftig deutlich strikteren Vorgaben unterliegen, wenn es um die Verwertung von Sicherheiten bei Wertpapierkrediten geht.

Was genau hat das zu bedeuten? Ein Überblick:

Was genau stand in der Comdirect-Klausel?

Konkret hält das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht laut seinem Urteil (5 U 132/22) die Formulierungen zur Vergabe von Wertpapierkrediten in den AGBs der Comdirect für nichtig. In der strittigen Klausel hieß es wörtlich: „Die Comdirect ist berechtigt, aber nicht verpflichtet, zur Wiederherstellung der vereinbarten Deckungsrelationen Depotwerte zu veräußern. Außerdem kann [die] Comdirect anderweitige Sicherheiten verlangen, um die vereinbarte Sicherungsquote wiederherzustellen.“

Weil die Comdirect auch noch die Deckungsrelationen – vereinfacht gesprochen: die Höhe der Sicherheit je nach gehaltener Wertpapierart – jederzeit ändern konnte, seien diese Sätze „formnichtig“, so das Gericht. Übersetzt für Nichtjuristen: Die Comdirect nimmt sich mithilfe ihrer AGBs viel zu viel heraus: Sie kann die Kreditbedingungen ändern, über das Eigentum der Kunden verfügen und die Erlöse aus dem selbst initiierten Zwangsverkauf vereinnahmen. Den Richtern in Schleswig geht das zu weit.

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Andere Institute verwenden ähnliche Klauseln

Das Urteil ist für die gesamte Branche spannend. Denn das Gericht stellt auch fest: „Die Frage der Wirksamkeit der Klausel […] ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil nicht nur die Beklagte sie verwendet, sondern nach den Recherchen des Senats auch andere depotführende Banken ähnliche Klauseln verwenden.“

Im Prinzip geht es damit um das Rechte der Banken, bei Wertpapierkrediten Sicherheiten zu verpfänden. Diesem Recht setzt das Urteil sehr viel engere Grenzen. Der Fall ist zwar nicht von seiner Breitenwirkung, wohl aber von Sinn und Inhalt her vergleichbar mit dem BGH-Urteil zu Zustimmungsfikition von April 2021 (siehe unser Themendossier hier). Die Richter in Schleswig-Holstein sagen: Banken räumen sich in ihren AGBs sehr weitgehende Rechte ein, die juristisch nicht haltbar sind.

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Sieg auf ganzer Linie für den Kunden

Was den Kunden im konkreten Fall angeht: Er kann sich freuen. Zwar ist offen, wann genau er im März 2020 das elektronische Schreiben der Bank gelesen hat. Fest steht hingegen, dass er am 25. März (zweit Tage, nachdem die Commerzbank einen Teil der Aktien zwangsverkauft hatte) zunächst 20.000 Euro und am 27. März weitere 3.000 Euro auf das Wertpapierkreditkonto überwies. Nur um dann herauszufinden, dass die Comdirect das Gros seiner Papiere bereits verscherbelt hatte. Gegen diese Zwangsliquidation setzte er sich zur Wehr und klagte. Sein Ansinnen: Wieder 12.923 Aktien gegen Zahlung von 71.418 Euro (also zum Kurs von 5,53 Euro) ins Depot eingebucht zu bekommen, natürlich samt Anwaltskosten.

Ökonomisch ist dieses Ansinnen verständlich: Am 23. März 2020 waren die Aktienmärkte im Allgemeinen und die Aktie der Deutschen Bank im Besonderen schon wieder auf Erholungskurs. Ende April 2020 notierte die Aktie wieder über 7 Euro, Anfang Juni über 9 Euro, Anfang 2021 schließlich deutlich über 10 Euro. Hätte die Comdirect Ruhe bewahrt, wäre alles anders verlaufen, stattdessen war sie jedoch in den Panik-Modus verfallen.

Juristisch sah die Sache komplizierter aus. Schon in erster Instanz hatte das Landgericht Itzehoe der Klage im Februar 2022 zwar stattgegeben. Allerdings wies es den Wunsch nach Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten ab und gab zudem der Wiederklage der Comdirect statt, ihr den Mehraufwand zu ersetzen, der durch den ganzen Zauber entstanden sei – schließlich habe der Kunde nur verzögert auf das Schreiben der Bank vom 11. März reagiert und ihr auch nicht die Überweisung von insgesamt 23.000 Euro angekündigt.

Das OLG-Urteil besagt nun: Der Kläger darf nicht nur seine Deutsche-Bank-Aktien wieder zu 5,53 Euro kaufen. Laut Urteil bekommt er auch seine Anwaltskosten ersetzt, und die Wiederklage der Comdirect wird abgewiesen.

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„Pflichtwidrig und schuldhaft“

Die Urteilsbegründung fällt harsch aus. Kernaussage: Die Comdirect habe „pflichtwidrig und schuldhaft“ die ihr überlassenen Aktien veräußert. Und: Den Kläger treffe kein Mitverschulden – und selbst wenn es eines gäbe, träte dies „hinter die grob verschuldete Pflichtwidrigkeit“ der Bank zurück. Um Sicherheiten verwerten zu können, hätte die Commerzbank-Tochter erst einmal den Wertpapierkredit ganz oder teilweise kündigen oder der Kunde mit fälligen Zahlungen in Verzug sein müssen. Was nicht der Fall gewesen sei.

Weiter führte das Gericht aus: Die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots sei im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) genau geregelt. Demnach dürfe ein Verkauf nicht vor dem Ablauf eines Monats nach der Verkaufsandrohung erfolgen. Im strittigen Fall seien aber lediglich zwölf Tage vergangen zwischen „Mahnung“ und Zwangsverkauf.

Gegen das Urteil ist eine Revision grundsätzlich zugelassen. Ob die Comdirect diesen Weg beschreitet, wollte sie auf Nachfrage nicht sagen. Zitat: „Diesen Fall kommentieren wir nicht.“

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