von Christian Kirchner und Heinz-Roger Dohms, 28. Juni 2020
Wirecard war ein Fake-Unternehmen. So lautete die Lehre der vergangenen Woche. Wirecard hatte aber auch einen real existierenden Kern – das ist die schmerzliche Erfahrung, die hunderttausende europäischen Fintech-Kunden an diesem Wochenende gemacht haben. Am härtesten traf es das hochgewettete, auch hierzulande von vielen Menschen genutzte britische Kreditkarten-Startup Curve. Dort ging von Freitag an nichts mehr, nachdem die britische Finanzaufsicht die dortige Wirecard-Tochter “Wirecard Card Solutions” aus dem Verkehr genommen hatte. Daneben stützen bzw. stützen sich aber auch etliche andere prominente Finanz-Startups auf die Dienste von Wirecard, darunter Holvi, Kontist, Funding Circle – was ist mit denen? Und was mit prominenten Wirecard-Kunden wie Aldi und der Allianz? Finanz-Szene.de hat übers Wochenende versucht, die Folgen der Wirecard-Fallouts möglichst sauber abzumessen. Dabei sind wir auch auf Beispiele der Leichen-Fledderei, auf die Frage nach den Folgen für den Fintech-Standort München und auf einen großen Profiteur gestoßen. Der Überblick in zehn Punkten:
Ist das jetzt Glück im Unglück? Oder Pech im Glück? Jedenfalls: Am 29. April und damit unmittelbar nach dem verheerenden KPMG-Prüfbericht zu Wirecard hatte das auch unter deutschen Technik-Nerds sehr beliebte britische Kreditkarten-Fintech Curve angekündigt, bei seinen E-Money-Diensten nicht länger auf das Zahlungs-Infrastruktur von Wirecard zurückzugreifen. Ab dem 28. Juni (also mit Datum des gestrigen Sonntags) wollte man das entsprechende Issuing und Processing selber erbringen. Vor den 28. Juni hat der liebe Gott indes bekanntermaßen den 25. Juni gesetzt; und an dem Tag (es war der Donnerstag vergangener Woche stellte die Wirecard AG ihren Insolvenzantrag.).
Folge: Am Freitag entzog die britische Finanzaufsicht FCA der dortigen Wirecard-Gesellschaft “Wirecard Card Solutions Limited” zumindest vorläufig die Genehmigung für Ihre Geschäfte. Etliche Curve-Kunden erhielten daraufhin folgende E-Mail (Hervorhebungen im Original):
“Your Curve card and all associated Curve transaction and money transfer services will be temporarily suspended with immediate effect. Please be assured, we expect to be up and running again shortly but it may take a few days. Your money and card details held at Curve are safe and secure. […] For now, please carry a backup card.“
Für ein Fintech ist das fast so etwas wie der Worst Case: die eigene Dienstleistung nicht mehr erbringen zu können – und dem Kunden sagen zu müssen, dass es, ähem, nicht schlecht wäre, wenn er noch eine Alternative (und sei es die einer klassischen Bank) parat hätte.
Gestern Abend kündigte Curve via Twitter an, dass vom heutigen Montag an wieder alles laufe.
Die FCA (das Kürzel steht übrigens für “Financial Conduct Authoriy”, nicht zur verwechseln mit dem “FC Augsburg”) erklärt ihr Vorgehen seit Freitag auch ausführlich auf ihrer Homepage (siehe hier). Dabei geht sie auch auf die Frage ein, was denn mit dem sogenannten E-Geld passiert, dass zum Beispiel dann entsteht, wenn ein Kunden Guthaben auf eine von der “Wirecard Card Solutions” emittierten Prepaid-Karte hochgeladen haben.
Wer nun gedacht hatte, dass dieses Geld irgendeiner Form von klassischer Einlagensicherung unterliegt – nope, das ist nicht so, wie die FCA den Usern in ihrem FAQ ununwunden klarmachte:
“Are my funds protected by FSCS?” – No. The Financial Services Compensation Scheme (FSCS) only applies to certain types of activity which does not include issuing electronic money or payment services.”
Die Folge: Sogar der in Deutschland beliebte Dienst “Boon” (eine Prepaid Mastercard ohne angeschlossenes Girokonto – nicht zu verwechseln mit Boon Planet, siehe unten) ist für die Nutzer gesperrt, und es ist immer noch nicht geklärt, inwiefern bzw. wann die Kunden ihr Geld zurückerhalten.
In der Theorie sind die Kundengelder auch ohne klassische Einlagensicherung geschützt. Dafür soll der FCA zufolge der “Safeguarding”-Ansatz sorgen, wonach Payment-Dienstleister wie Wirecard verpflichtet werden, das Geld ihrer Kunden auf Konten zu verwahren, die von den Konten des Unternehmens getrennt geführt werden. Siehe auch hier die Ausführungen der britischen Behörde:
“Wirecard is required […] to maintain appropriate measures to safeguard customers money. It does this by holding it separate from its own money in accounts with banks (or another credit institution). Effective safeguarding arrangements are critical to help ensure that customers’ money is protected and returned if a firm fails.”
Ob Wirecard diesen Vorgaben nachgekommen ist – ob der theoretische Schutz also auch in der Praxis besteht, das wird man sehen.
“Boon Planet” ist das Retailbanking-Angebot von Wirecard (und von seinen Leistungen und Funktionen her vergleichbar mit N26). Betrieben wird das Angebot von der Wirecard Bank AG. Heißt: Hier geht es nicht nur um Payment-Dienste gemäß E-Money-Lizenz, sondern hier geht es um echte Bankdienstleistungen und echte Einlagen.
Alles in allem sollen bei der Wirecard Bank AG zuletzt Kundengelder in Höhe von rund 1,7 Mrd. Euro gelegen haben. Indes – hier brauchen Kunden nach unserm Dafürhalten nicht zu zittern. Die Wirecard Bank AG ist Mitglied in der deutschen Einlagensicherung, und zwar sowohl in der gesetzlichen als auch darüber hinaus in der freiwilligen Absicherung des Bundesverbands deutscher Banken (BdB). Die Kunden werden also aller Voraussicht nach entschädigt werden.
Laut “Süddeutscher Zeitung“ dürfte die Bafin in den nächsten Tagen ein „Moratorium“ über das Institut verhängen. Danach werde die BdB-Einlagensicherung die Kontrolle übernehmen und die Wirecard Bank letztlich wohl in die Insolvenz schicken.
Abzuwarten bleibt, was mit den übrigen Gläubigern der Wirecard Bank AG ist. Per Ende 2018 (aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor) hatte das Institut auch 3,3 Mrd. Euro Verbindlichkeiten gegenüber anderen Kreditinstituten.
In einem Schreiber der Wirecard Bank AG an die Kunden hieß es am Freitag:
“In den Sicherungsbereich einbezogen sind grundsätzlich Gläubiger, die natürliche Personen sind (auch wenn im Rahmen ihres Handelsgewerbes tätig) sowie Personenhandelsgesellschaften und juristische Personen. Ausgenommen sind jedoch Gläubiger, wenn es sich bei ihnen um Kreditinstitute, Finanzinstitute, Wertpapierunternehmen oder Gebietskörperschaften, also etwa Bund, Länder und Gemeinden, handelt.”
Um ehrlich zu sein: Den kompletten Überblick haben wir noch nicht – auch weil unsere Recherchekapazitäten übers Wochenende begrenzt waren. Aber ein paar Snippets können wir liefern:
In den Archiven und Bedingungen stößt man z.B. auf folgende Namen, wobei sich abzeichnet, dass die Zahl der betroffenen Fintechs in Großbritannien erheblich größer ist als in Deutschland:
In angelsächsischen Wirtschaftsmedien wurde in der vergangenen Woche auch immer wieder auf die Verbindung zwischen Revolut und Wirecard verwiesen. Tatsächlich soll es in der Anfangsphase des britischen N26-Rivalen ein Issuing und auch Processing von Mastercard-Prepaidkarten durch Wirecard gegeben haben. Wie es um den aktuellen Status dieser Beziehung steht, ist uns nicht ganz klar: Gefühlt: Wenn eine nennenswerte Zahl von Revolut-Kunden massiv betroffen wäre, dann bekäme man etwas davon mit. “Forbes” schreibt (mutmaßlich nach einer Rückfrage beim Unternehmen): “Man geht am Markt davon aus, dass Revolut seine Zahlungsdienstleistungen von Wirecard wegmigriert hat, um mögliche Komplikationen zu vermeiden.” Das sagt Revolut in den sozialen Netzwerken auch: Alle Karten bleiben funktionsfähig, man habe sämtliche Funktionen der App erhalten.
Wirecard ist nicht das “Lehman für Fintech”. Sondern: Wirecard wird irgendwo zwischen Ärgernis und Rückschlag eingeordnet. Die einen trifft’s direkt, die anderen fürchten indirekte Konsequenzen (etwa im Sinne skeptischer Kunden und strengerer Regulierer).
Noch eine Beobachtung aus den letzten Tagen: Wer ein Fintech führt, dem man irgendeine Verbindung zu Wirecard zutraut – der erhielt in den vergangenen Tagen offenbar Leichen-Fledderei-Mails von Dienstleistern aller Art. Ein Beispiel:
“Hello Xxxxxx, With the recent news of Wirecard’s insolvency many merchant are now in need of a quick solution for their processing, is this going to affect your business? Merchants using Wirecard are now in need of an alternative solution so we have taken it upon ourselves to on-board these merchants as a priority to prevent any loss of custom. Xxxxxxx have been running for 14 years now and as a higher risk merchant services PSP, we often come across difficult merchant circumstances that require our expertise and nurtured connections in order to ensure businesses can operate as they should. If you have or know of anyone that is currently experiencing struggles such as having settlements released or have been served notice, let me know and let’s see if I can add value.”
Bizarr: Es sind auch schon Excel-Dateien mit hunderten Wirecard-Mitarbeitern, die angeblich auf diesem Wege nach einem neuen Arbeitgeber Ausschau halten.
Am Wochenende wurde in einem befreundeten Medium die These aufgestellt, die (angeblich) rund 5000 Mitarbeiter würden größtenteils schon bald neue Jobs finden. Schön wär’s – aber kommt’s wirklich so?
Schauen wir mal, was München in der Schnittmenge von Banking, Fintech und Zahlungsverkehr zu bieten hat: Die Probleme bei der Fidor Bank haben wir oft genug beschrieben. Die Deutsche Handelsbank machte zuletzt alles andere als einen expandierenden Eindruck. Baader ist im Fintech-Bereich zwar umtriebig, aber auch kein Kandidat für signifikanten Job-Aufbau. Bleibt die neue Check24 Bank, wo sich zu den zuletzt 80 Mitarbeitern sicher noch ein paar Dutzen hinzugesellen werden. Aber sonst?
Okay, München hat ein paar ganz fluffige Payment-Szene. Aber wie der Münchner Banking-Fintech-Payment-Kosmos in der jetzigen wirtschaftlichen Lage ein paar hundert (zu schweigen von ein paar Tausend) Leute aufnehen soll – wir wären da skeptisch. Und das mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage gilt für angrenzende Gewerke ja ebenfalls.
Auf der PSP-Seite liegt auf der Hand, wer von der Wirecard-Pleite profitieren könnte (z.B. Adyen, Heidelpay, Concardis …). Und im Bereiche des White-Label-Bankings? Gibt es auffällig viele Überschneidungen zwischen Wirecard und der Solarisbank. Würde uns wundern, wenn beim Berliner Vorzeige-Finrech dieser Tage nicht einige Kapazitäten auf die Frage gerichtet würden, wie man Geschäft von Wirecard herüberzieht. Vielleicht haben wir morgen ja schon 2-3 Details in der Frage.