Analyse

Raiffeisens offene Flanke: Warum der Fall der „Maverick-Bank“ so essenziell ist

Ginge es im Fall der „Maverick-Bank“ allein um die Aktivseite – ja, dann hätten wir es tatsächlich „nur“ mit einem regionalen Rührstück zu tun. Da ist also diese kleine thüringische Volksbank, deren Vorstände das ganz große Rad drehen wollen und dabei (glaubt man der Bafin, dem BVR und weiteren Kennern der Materie) irgendwann die Kontrolle verloren haben. Ob dies aus Überforderung geschah, aus Geltungssucht, ob möglicherweise auch anders geartete Energien eine Rolle spielten – all das wird irgendwann zu klären sein.

Für den Moment gilt: Die Aufsicht ist in großer Sorge. Der Vorstandschef weg. Kein Testat für 2022 ausgestellt. Und glaubt man Menschen, die die Bank von innen kennen, dann klingt plausibel, was der „Spiegel“ letzte Woche schrieb. Nämlich dass Verluste „in bis zu dreistelliger Millionenhöhe“ drohen. Was gemessen an der Bilanzsumme unfassbar viel wäre (ungefähr so, als würde die Commerzbank mal eben 35 Mrd. Euro versenken), gemessen an der Finanzkraft der genossenschaftlichen Gruppe aber natürlich trotzdem überschaubar bliebe. „Nur“ ein regionales Rührstück, wie gesagt. Doch da ist ja auch noch – die Passivseite!!!

Denn: Auch auf der hat die VR-Bank Bad Salzungen in den letzten Jahren ein großes Rad gedreht – und entgegen der Losung des alten Raiffeisen („Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele“) die Genossenschafts-Anteile mit der ganz, ganz fetten Kelle ausgereicht. Hier nun wird die Sache plötzlich richtig interessant. So unique nämlich die Aktivpolitik der „Maverick-Volksbank“ war, so gut kennt man das, was sie in der Refinanzierung trieb, seit einigen Jahren auch von dutzenden anderen Genobanken hierzulande.

Falls es also tatsächlich so kommen sollte (von hier an jetzt rein hypothetisch!!!), dass der BVR irgendwann in die Verlegenheit gerät, irgendwas oder irgendwen da draußen rausreißen zu müssen – dann wird er das vermutlich tun. Doch zugleich wird die Frage aufkommen: Hat der Genosektor möglicherweise ein weit über die thüringische Provinz hinausreichendes „Moral Hazard“-Problem?

Unsere Analyse:

1.) Die „Maverick-Bank“: Ihr enormes Mitgliederguthaben ist Stärke und Schwäche zugleich

Die „Maverick-Bank“ zeigt exemplarisch, wie die Genossenschaftsbanken in den vergangenen Jahren Mitgliederzahlen und Geschäftsguthaben in die Höhe trieben. Allein zwischen 2014 und 2020 – soll heißen: in den Jahren vor der Fusion mit der deutlich kleineren Raiffeisenbank Borken Nordhessen eG, die einen Extra-Schub brachte – stieg die Mitgliederzahl des Hauses von 7.600 auf 11.800 (ein Plus von 55%). Krasser noch: Das Geschäftsguthaben, das diese Mitglieder einbrachten, verfünffachte sich im selben Zeitraum nahezu auf 76 Mio. Euro (und damit auf knapp 6.500 Euro pro Mitglied). Seit der Fusion reden wir, wie erwähnt, über 85 Mio. Euro per Ende 2021.

Wie viel 2022 dazu gekommen ist, dürfte erst der noch ausstehende Jahresabschluss offenlegen. Dass die Führung des Instituts schon vor der neuerlichen Eskalation mit Bafin und Verband auf erweiterter Eigenkapital-Suche war, kann als gesichert gelten. So findet sich im Kleingedruckten zur Fusion mit der Raiffeisenbank Borken Nordhessen eG der Hinweis: „Neu: Anteile können bis zu einer Höchstgrenze von 800 Geschäftsanteilen à 125,00 EUR pro Mitglied gezeichnet werden“. Bedeutet übersetzt: Bis zu 100.000 Euro haftendes Eigenkapital können Mitglieder der „Maverick-Bank“ anlegen. Eine stolze Summe – und eine Frage von ein paar Mausklicks.

Für die Bank sind die Mitglieder ein zentraler Weg, sich das nötige Eigenkapital zu beschaffen. Im Jahr 2021 stand das von Mitgliedern gezeichnete Kapital für 68% des gesamten Eigenkapitals im Konzern von 133 Mio. Euro. Dieses Problem ist der Führung durchaus bewusst, wie eine Stelle im Jahresabschluss zeigt, an der es um das bilanzielle Eigenkapital geht (bei dem weitere Posten hinzu gerechnet werden): „Beim bilanziellen Eigenkapital ist der Anteil der Geschäftsguthaben überdurchschnittlich und der Anteil der Rücklagen, trotz des Zuwachses im Geschäftsjahr 2021, weiter unterdurchschnittlich ausgeprägt. Nach unserer Unternehmensplanung ist in den kommenden 5 Jahren eine schrittweise Annäherung der Rücklagen an den Durchschnittswert vergleichbarer Kreditgenossenschaften durch erhöhte Dotierungen geplant.“

Allerdings stand dieser Passus fast bis aufs Wort auch schon in den Jahresabschlüssen 2020 und 2019. Die Rücklagen zu erhöhen und die Abhängigkeit von den Geschäftsguthaben zu reduzieren, scheint schwierig zu sein und länger als gedacht zu dauern. Erst seit 2020 werden die Rücklagen überhaupt als nennenswerter Faktor für die Erhöhung der Eigenmittel nach Art. 72 CRR erwähnt.

2.) Die Makro-Sicht: Sinkende Mitgliederzahlen, aber stark steigende Mitgliederguthaben

Mit ihrem enormen Fokus auf Geschäftsguthaben als Säule der Kapitalisierung ist die VR Bad Salzungen Schmalkalden einerseits ein Ausreißer. So machte das von Mitgliedern gezeichnete Kapital im bundesweiten Durchschnitt 2022 nur 26% des bilanziellen Eigenkapitals aller deutschen Genossenschaftsbanken aus. 16,5 Mrd. Euro an Geschäftsguthaben standen im vergangenen Jahr laut BVR insgesamt 45,8 Mrd. Euro Rücklagen gegenüber. So gesehen, steht in Bad Salzungen – relativ betrachtet – deutlich mehr Geld von Genossen direkt im Feuer als anderswo.

Andererseits ist die „Maverick-Bank“ durchaus typisch, und zwar in der starken Steigerung der Geschäftsguthaben.

Bundesweit stagniert oder sinkt die Mitgliederzahl vieler Genobanken, meist seit Jahren und häufig aus demografischen Gründen. Das Resultat: Insgesamt ist die Zahl der Mitglieder laut BVR in den vergangenen fünf Jahren von 18,5 Millionen auf 18 Millionen gesunken (ein Minus von 3%). Parallel aber ist die Höhe der ausstehenden Geschäftsanteile gestiegen, weil einige wenige Genossinnen und Genossen sehr viel zeichnen. In der Folge ist das haftende Eigenkapital durch die Ausgabe neuer Geschäftsanteile im selben Zeitraum um 4,5 Mrd. Euro auf die erwähnten 16,5 Mrd. Euro gestiegen, ein Plus von fast 38%. Damit wuchs dieser Teil des bilanziellen Eigenkapitals doppelt so stark wie die Rücklagen, die von 38,4 Mrd. Euro (Ende 2017) „nur“ auf 45,8 Mrd. Euro (Ende 2022) stiegen.

Vor allem in den vergangenen zwei Jahren haben Deutschlands Genossenschaftsbanken neue Geschäftsanteile ausgegeben. Legten die Geschäftsguthaben vorher erst um 3, dann 4, dann 5 Prozent pro Jahr zu, waren es auf einmal 9,6% (2021) respektive 10,7% (2022). Der Tendenz nach steigen sie somit rascher und rascher.

3.) Die Mikro-Sicht: In einigen Fällen haften Kunden durchschnittlich mit Tausenden Euro

Was schon auf der Makro-Ebene mit ihren aggregierten Zahlen eindrucksvoll ist, zeigt sich auf der Mikro-Ebene in vielen Beispielen noch viel deutlicher. Schon im bundesweiten Durchschnitt ist das haftende Eigenkapital je Kunde von rund 650 Euro im Jahr 2017 auf zuletzt 920 Euro gestiegen. In Einzelfällen jedoch ist die Entwicklung noch sehr viel krasser, wie in Blick auf ein paar Institute zeigt, die ihren Mitgliedern jeweils 50.000 Euro oder mehr zur Zeichnung anbieten:

  • Die VR Bank Niederbayern-Oberpfalz hat heute wie vor fünf Jahren rund 25.000 Mitglieder. Dennoch hat sich das haftende Eigenkapital in diesem Zeitraum annähernd vervierfacht, auf 70 Mio. Euro. Entsprechend kletterte das durchschnittliche Geschäftsguthaben je Mitglied dort auf schon nicht-mehr-ganz-so-symbolische rund 2.800 Euro.
  • Bei der VR Bank Nord verdoppelte sich die durchschnittliche Höhe der Geschäftsanteile pro Mitglied aus den gleichen Gründen (stagnierende Mitgliederzahlen, rasch steigendes Geschäftsguthaben) binnen fünf Jahren auf rund 3.500 Euro.
  • Bei der Volksbank Gescher hat sich das Geschäftsguthaben binnen fünf Jahren auf 28 Mio. Euro versechsfacht. Weil die Mitgliederzahl sich aber im gleichen Zeitraum kaum verändert hat (Stand zuletzt: 5.100), hat sich auch das durchschnittliche gezeichnete haftende Eigenkapital je Mitglied annähernd versechsfacht – auf 5.600 Euro.
  • Spitzenreiter in unserer kleinen Auswahl ist die Raiffeisenbank im Hochtaunus, die neuerdings bei Gewerbeimmobilien ein ziemlich großes Rad dreht (siehe "Hyp, Hyp, hurra: Das irre Kreditbuch der Raiba Hochtaunus" vom März 2022) und ihre Bilanzsumme binnen fünf Jahren auf 1,4 Mrd. Euro fast verdreifacht hat. Für ihren Wachstumskurs hat sie nicht nur bundesweit Einlagen gesammelt, sondern auch das nötige Kapital eingeworben. So hat sich das Geschäftsguthaben der Raiba Hochtaunus dank einer massiven Kampagne in den vergangenen fünf Jahren mehr als verzehnfacht – von 13,6 Mio. Euro (2017) auf 138 Mio. Euro (2022). Weil die Zahl der Mitglieder parallel jedoch nur von 5.600 auf zuletzt 8.800 zunahm, stieg das durchschnittliche haftende Eigenkapital von knapp 2.400 Euro je Kunde (2017) auf inzwischen luftige 16.200 Euro (!!).

4.) Das Problem der Mitglieder: Im Extrem stehen bis zu 104.000 Euro im Risiko

In guten Zeiten ist das Zeichnen von Geschäftsanteilen eine feine Sache: Die Bank zählt das Geld als haftendes Eigenkapitel und steht mit jedem eingesammelten Euro bei Kapital-Kennziffern besser da als vorher. Die Zeichner wiederum kassieren eine Dividende. Die VR Bank Nord schüttete heuer für 2022 stolze 4,5% aus. Die Rheingauer Volksbank wirbt mit einer Ausschüttung von mindestens 4%, die Raiffeisenbank im Hochtaunus wirbt für 2023 mit 3,5%, die VR Bank Niederbayern Oberpfalz stellt für das laufende Jahr 3,0% in Aussicht.

Was aber, wenn die Zeiten einmal nicht gut sind? Sprich: Wenn eine Bank wegen fauler Kredite oder Misswirtschaft schlicht so schlecht dasteht, dass tatsächlich das Kapital der Genossinnen und Genossen angezapft werden müsste? Oder wenn ein Haus wie die VR Bad Salzungen Schmalkalden die Kapitalvorgaben der Aufsicht zu reißen droht? Wird dann der Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken (BVR) respektive seine Sicherungseinrichtung vorher einspringen? Oder wird es heißen: Die Sicherungseinrichtung ist für Einlagen gedacht und vielleicht, vielleicht noch für jene Genossinnen und Genossen, die über klassische symbolische Guthaben (von heute 52 Euro je Geschäftsanteil) verfügen – nicht aber dafür, denen aus der Patsche zu helfen, die eine Genossenschaft als lukrative Geldanlage mit vermeintlichem Vollkaskoschutz genutzt haben?

Fakt ist: Die Summen, die Mitglieder bei ihren Genobanken hinterlegen, sind vielerorts angestiegen. Und zwar dramatisch. Statt der alten symbolischen Mindestbeträge je Geschäftsanteil erlaubten in den vergangenen Jahren immer mehr Volks- und Raiffeisenbanken ihren Mitgliedern, deutlich höhere Beträge "anzulegen". Allein in einer neuen Umfrage des Verbraucherportals Biallo (über die das "Handelsblatt" jüngst berichtete) gaben 144 von 198 antwortenden Genobanken an, ihre Maximalsumme gegenüber 2021 erhöht zu haben. Demnach können Mitglieder sich inzwischen bei mindestens zehn Instituten mit 50.000 Euro oder mehr beteiligen.

Ein paar aktuelle Beispiele:

  • Raiffeisenbank im Hochtaunus (Bilanzsumme: 1,4 Mrd. Euro): bis zu 50.000 Euro
  • VR Bank Niederbayern-Oberpfalz (Bilanzsumme: 2,2 Mrd. Euro): bis zu 50.000 Euro
  • Rheingaues Volksbank (Bilanzsumme: 1,8 Mrd. Euro): bis zu 52.500 Euro
  • VR Bank Nord (Bilanzsumme: 5,2 Mrd. Euro): bis zu 100.000 Euro   
  • VR Bad Salzungen Schmalkalden (Bilanzsumme: 1,5 Mrd. Euro ): bis zu 100.000 Euro
  • Volksbank Gescher (Bilanzsumme: 0,6 Mrd. Euro): bis zu 104.000 Euro 

Obendrein hat inzwischen bereits jede zehnte Genobank ihren Suchradius über das eigene Einzugsgebiet ausgeweitet und sich auch bundesweit um Anteilszeichner bemüht (wie schon im Frühjahr 2022 das Portal Biallo ausrechnete).

5.) Das Problem der Genobanken: Die Mitglieder können ihre Anteile zurückgeben

Was nun den konkreten, aktuell heiß diskutierten Fall der VR Bad Salzungen Schmalkalden angeht, so lässt sich natürlich mit dem generellen Diktum des BVR argumentieren, dass die Genossen schon keines ihrer 737 Institute fallen lassen werden – sprich dass es gar nicht erst so weit kommen wird, dass die Mitglieder mit ihrem Geschäftsguthaben für Verluste oder gar eine Pleite haften müssen. Zur Not bleibt dem Verbund der Genossen ja auch immer noch die Option der "Zwangsfusion".

Rein nach den Fakten müssen die Zeichner von Geschäftsguthaben allerdings im Falle einer Schieflage für ihre Bank haften. Formal haben sie keinen Anspruch auf Rettung. Möglich daher, dass der Fall der "Maverick-Bank" vielen Mitgliedern von Genobanken überhaupt erst klarmacht, dass ihre Anlage keineswegs ohne Risiko ist. Dies wiederum lenkt den Blick auf ein anderes Risiko der aktuellen Praxis: auf die Tatsache, dass Zeichner von Geschäftsanteilen, die sich um ihr Geld sorgen, diese Anteile auch wieder zurückgeben können – und zwar relativ kurzfristig, gemessen an ihrer elementaren Bedeutung für die Kapitalisierung ihrer Banken. In aller Regel ist eine Kündigung zum Jahresende möglich, mit einer Frist von sechs Monaten. Bei den Geschäftsguthaben der Genossenschaftsbanken handelt es sich somit – obgleich sie diese zu ihrem haftenden Kapital zählen – keineswegs um eine fixe, verlässliche Masse, sondern um eine Größe, die im Fall einer schwelenden Krise auch im größeren Stil wieder abfließen kann. Frei nach dem Motto: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.

Zwar gibt es heute keine Nachschusspflicht mehr – doch wer 50.000 Euro oder 100.000 Euro "angelegt" hat, überlegt es sich, wenn ihm das Risiko bewusst wird, vielleicht doch zweimal, ob er für riskante Geschäfte seiner Hausbank zur Not gerade stehen will.

Womit wir bei der Frage wären, was eine Volksbank wohl mit ihrem Geschäft, ihren Aktiva anstellt, wenn große Teile ihres Eigenkapitals in kurzer Zeit in größerem Stil abfließen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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