Rückblick (#10)

Oktober 2022: Müssten unsere Banken nicht viel mehr Risikovorsorge bilden?

In unserem Jahresrückblick zeigen wir, welche Themen Sie 2022 besonders interessiert haben – mit zwölf Klickfavoriten aus zwölf Monaten. 

Heute mit Teil zehn:  

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Gibt es eigentlich zwei Deutsche Banken? Eine, deren Chef seit Monaten vor Inflation („Gefährdet den sozialen Frieden“) und Rezession („Nicht mehr abzuwenden“) warnt – und eine, die am heutigen Mittwoch (siehe unseren Live-Blog weiter unten) einen üppigen Quartalsgewinn präsentieren dürfte und die Analysten zufolge im Gesamtjahr mit einer Risikovorsorge von 1,3 Mrd. Euro auskommen will (was gerade mal einen Aufschlag von 15% verglichen mit dem Mittel der vergangenen zehn Jahre bedeuten würde)?

In der Tat, die Gegensätze sind erstaunlich. Auf der einen Seite: Ukraine-Krieg, Energiekrise, eine entfesselte Inflation und eine noch immer nicht wirklich eingedämmte Pandemie. Auf der anderen Seite: die Bankenbranche, die in Teilen immer noch so tut, als wäre Business as usual. Zu Recht? Das ist die Frage! Haben wir es mit einer Situation wie 2008 zu tun, als die Subprime-Blase in den USA längst geplatzt war, viele deutsche Banken aber noch glaubten, sie selber werde es schon nicht treffen? Oder drängt sich eher der Vergleich mit dem Frühjahr 2020 auf? Da schaute der Bankensektor erst unvermittelt in einen Abgrund, nur um bald darauf – unterstützt von beispiellosen Wirtschaftshilfen der öffentlichen Hand – erleichtert aufzuatmen.

Wir haben die unübersichtliche Gemengelage zum Anlass für eine Tiefenrecherche zum Thema Risikovorsorge genommen. Warum bilden unsere Banken nicht mehr Rückstellungen? Taugen angesichts der scharfen Zinswende die Risikomodelle noch? Bietet der Anlagebestand möglicherweise einen Ausweg? Und, platt gesagt: Wer muss ein böses Erwachen fürchten, wer nicht? Unser „Deep Dive“:

1. Wie sieht das wirtschaftliche Umfeld derzeit aus?

Nicht gut. Bei Beratern und Investoren werden bereits ganze Sektoren angezählt, die Banken bald Probleme bereiten könnten. Ganz vorn dabei: Luxus- und Konsumgüter, bei deren Anschaffung sich Konsumenten in Zeiten galoppierender Teuerung am ehesten einschränken können, zudem energieintensive Branchen wie die Chemie, wo BASF eben erst angekündigt hat, Stellen am Hauptsitz in Ludwigshafen abzubauen und die Kosten um jährlich 500 Mio. Euro zu reduzieren. Und die Baubranche muss sich plötzlich neben Energiekosten, Inflation und Materialproblemen mit signifikanten Auftragsrückgängen oder -stornierungen herumschlagen, die neueste Umsatzprognose für 2022 lautete am Dienstag: real minus 5%.

Auch im Massengeschäft der Kreditwirtschaft sind die Aussichten mau. So hat sich in den zurückliegenden beiden Monaten die Zahl der negativen Einträge zur Bonität von Verbrauchern bei der Auskunftei Schufa binnen Jahresfrist um 20% erhöht. Im Markt werden bereits Erhebungen zitiert, denen zufolge sich etwa in der Konsumentenfinanzierung 40% der Kunden ihre Ratenzahlungen eigentlich nicht mehr leisten können. Unterdessen werden Häuslebauer neben der Inflation durch spürbar höhere Zinsen gebeutelt, sobald eine Anschlussfinanzierung ansteht.

Entsprechend gedämpft ist die Stimmung im Finanzsektor. Auf der jüngsten Jahrestagung von IWF und Weltbank waren Augenzeugen zufolge auffällig viele Banker mit hängenden Köpfen zu sehen. In Europa ziehen sich die Institute derzeit warm an. Schon im zweiten Quartal sprang laut EZB-Umfrage der Anteil der Banken, die ihre Kreditvergabe-Standards verschärfen, auf gut das Doppelte an. Und die am gestrigen Dienstag publizierten Daten fürs dritte Quartal schreiben den Trend fort – demnach ist die Gruppe der restriktiver finanzierenden Institute nochmals um rund ein Drittel gewachsen. Damit schränken inzwischen 40% der Großbanken in der Euro-Zone ihre Kreditvergabe ein. Als Grund dafür nennen sie vor allem eine veränderte Risikotoleranz respektive -wahrnehmung.

Eine interessante, ja erstaunliche Tatsache dabei ist: Banken hierzulande zeigen sich deutlich weniger alarmiert als etwa ihre Wettbewerber in Frankreich oder Spanien.

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2. Warum sorgen die Banken nicht mit mehr Rückstellungen für Verluste vor?

Weil sie dazu keinen Anlass haben – sagen die Banken. Belastungen seien, auch zur eigenen Verwunderung, noch nicht abzusehen geschweige denn zu verbuchen, verlautet aus einem der beiden großen Finanzverbünde. Was wiederum das Eigenkapital angehe, stünden die Häuser ohnehin sehr gut da. Aus dem Vorstand einer Auslandsbank war jüngst gar von einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Wirtschaftsprüfer zu hören: Die Bank selbst würde gerne mehr Risikovorsorge bilden, der Prüfer aber opponiere.

Derlei Diskussionen widerspricht allerdings Klaus-Peter Naumann, Vorstandssprecher des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland (IDW): “Auch wenn deutliche Belastungen noch nicht eingetreten sind, stehen die Bilanzierungsregeln der Bildung umfangreicher Risikovorsorge keineswegs entgegen“, sagt er Finanz-Szene und legt nach: „Unsere Sorge ist, dass Institute per Ende September im Zweifel eher zu wenig Rückstellungen bilden und sie dies in ihren geprüften Jahresabschlüssen dann nachholen müssen. Jedenfalls werden wir uns die Zahlen per Ende Dezember genau anschauen.“ Der Hintergrund: Die Wirtschaftsprüfer testieren den Jahresabschluss, nicht aber die einzelnen Quartalsberichte. Naumann macht denn auch klar, was er erwartet: „Für den Bankensektor ergibt sich aus den Kriegsfolgen gegenüber Ende Juni eine verschärfte Risikosituation. Von daher ist damit zu rechnen, dass die Risikovorsorge der Institute per Ende September im Schnitt gestiegen ist.”

Für ein solches Vorgehen steht den Instituten im deutschen Handelsgesetzbuch (HGB) das Instrument der Pauschal-Wertberichtigung zur Verfügung. Der internationale Bilanzierungs-Standard IFRS 9 setzt für die Bildung von Risikovorsorge unterdessen eine signifikante Erhöhung des jeweiligen Kreditausfall-Risikos voraus. Allerdings können Banken in extremen Situationen – wie zuletzt in der Pandemie – darüber hinaus Rückstellungen in Form sogenannter „Post-Model-Adjustments“ (auch „Overlays“ genannt) bilden. Diese sind freilich zu begründen. So teilt zum Beispiel die LBBW auf Anfrage mit: „Die originäre Risikovorsorge ist nach wie vor unauffällig. Mit Blick auf die zahlreichen makroökonomischen und geopolitischen Risiken hat die LBBW aber im ersten Halbjahr 2021 zusätzliche Vorsorge im Rahmen von so genannten Model-Adjustments in Höhe 90 Mio. Euro gebildet.“

Der Drang, jenseits von Modellrechnungen Vorsorge zu betreiben, ist in Banken recht unterschiedlich ausgeprägt. So wollen die Verantwortlichen mancherorts zunächst einmal den Effekt des 200 Mrd. Euro schweren „Abwehrschirms“ der Bundesregierung gegen hohe Energiepreise abwarten und vor allem schauen, wie diese Hilfen verteilt werden; erst dann wird die Risikovorsorge aufgestockt. Es wird interessant sein zu sehen, wie weit Institute mit derlei Ansinnen bei ihrem Prüfer durchdringen, wenn der Jahresabschluss 2022 ansteht.

Immerhin, einen triftigen Grund, keine oder nur geringe neue Risikovorsorge zu bilden, gibt es: dass noch genug Reserven aus dem Jahr 2020 übrig sind. Die damals nach Ausbruch der Corona-Pandemie gebildete Vorsorge haben viele Banken bislang nur zum Teil abgebaut. Diese lässt sich nun auflösen und mit Blick auf die jüngsten Schocks erneut bilden, ohne dass sich dadurch am Saldo groß etwas ändern muss. 

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3. Welche Banken trifft es besonders?

Gewiss, auch Großbanken haben es nicht leicht. Gemessen an nötigen Bereinigungen im Portfolio, sieht es derzeit aber zum Beispiel für Wholesale- und Investmentbanken besser aus als zu erwarten wäre. Sie zählen einmal mehr zu den Gewinnern einer Krise. Die stark schwankenden Kurse und die Nachfrage von Unternehmen nach Absicherungen haben bei den Instituten zuletzt die Kasse klingeln lassen, während in Dollar gehaltene Positionen über den Wechselkurs die Ergebnisrechnung schönen (weil sie aktuell in Euro gerechnet mehr wert sind). Nur wer bis zuletzt auf dem Markt für gehebelte Finanzierungen (Leveraged Finance) aktiv war, hat derzeit wenig Spaß. Und solange der Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine durch Russland ein Restrisiko bleibt, wird kaum jemand neue große Finanzierungen oder gar eine Übernahme wagen wollen.

Alles in allem aber dürften demnächst vor allem die genossenschaftlichen Primärinstitute sowie die Sparkassen in den Fokus rücken. Sie finanzieren die Masse der kleinen Betriebe, welche der Anstieg der Energiepreise vielfach aus der Kurve zu tragen droht. Ihre Art der Bilanzsteuerung bringt es zudem mit sich, dass sie nun mehr als andere die negativen Effekte des Zinsanstiegs zu spüren bekommen.

Der Grund: Genossenschaftsbanken und Sparkassen haben die Verzinsung ihrer Aktiva, sprich von Baufinanzierungen und anderen Darlehen, in der Regel auf Jahre hinaus festgeschrieben. Auf der Passivseite dagegen, vielfach von täglich fälligen Einlagen geprägt, müssen sie nun höhere Zinsen für Einlagen bieten, um im Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Mit einem Ausbau der Aktiva lässt sich dies derzeit nicht kompensieren – wegen der damit verbundenen Risiken, aber auch mangels Nachfrage. Bei den Sparkassen Baden-Württembergs etwa ist das Volumen der Immobilienfinanzierungen von März bis September um 56% eingebrochen, wie am Dienstag bekannt wurde. Dies reduziert die Zinsmarge.

Banken vor allem in Südeuropa liefern das Kontrastprogramm: Angesichts latenter Zweifel an ihrer Stabilität zu Zeiten der europäischen Staatsschuldenkrise vor rund zehn Jahren haben sie sich ihre Refinanzierung zu festen Sätzen langfristig gesichert. Auf ihrer Aktivseite dagegen dominieren variabel verzinste Hypothekenkredite. Dies erhöht die Zinsmarge. Folge: In Griechenland oder etwa in Spanien wird die Zinswende Banken deutlich stärker helfen als in der Bundesrepublik – natürlich vorausgesetzt, die Kreditausfälle in der heraufziehenden Rezession halten sich in Grenzen.

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4. Taugen die Risikomodelle der Niedrigzins-Phase?

Der plötzliche Zinssprung fördert nicht nur eine offene Flanke in der Bilanzstruktur vieler Institute zutage, er wirbelt auch ihre Risikomodelle durcheinander, die zuletzt auf einer langen Niedrigzins-Phase basierten, und er treibt den Value at Risk – das Maß für das Verlustrisiko eines bestimmten Portfolios – in lange Zeit nicht mehr gesehene Regionen. Das muss keine Katastrophe sein. Erst Ende September strichen Bafin und Bundesbank bei der Präsentation ihrer Ergebnisse aus den Stresstests bei kleineren und mittelgroßen Banken deren Kapitalisierung heraus. Im Stressszenario hatte sich die harte Kapitalquote dieser Institute zwar im Mittel um 3,2 Prozentpunkte reduziert, mit durchschnittlich 14,5% lag sie aber noch immer deutlich höher als etwa bei der Deutschen Bank mit 13% (Stand Ende Juni). Diese Häuser können somit einige Verluste schultern.

Dennoch: Die Zinswende stresst die Risiko-Limite. Und Institute, die bis zuletzt fröhlich Fristentransformation nach dem Motto „aus kurz mach lang“ betrieben oder zu Jahresbeginn noch Baufinanzierungen mit einer Zinsbindung von zehn Jahren herausgaben, dürften derzeit alle Hände voll zu tun haben, um ihrer Risiken Herr zu werden.

In den Wertpapier-Portfolios der Institute sind schon Bremsspuren zu sehen. So kündigte Ende Juli der Sparkassenverband Baden-Württemberg „Wertpapier-Abschreibungen in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro“ an. Diese sollten zwar im Falle von bis zur Fälligkeit gehaltenen Festverzinslichen mit der Zeit wieder hereinkommen. Dennoch wirft diese rasante Entwicklung die Frage auf, was auf Daten der Vergangenheit basierende Modelle zu Zeiten von Wendepunkten wie derzeit taugen – und wie die Modellierung dem jüngsten Zinsschock Rechnung tragen wird.

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5. Ausweg Anlagebestand?

Eine Option, die Kenner an die Finanzkrise von 2008 erinnert und inzwischen wieder diskutiert wird, betrifft die Frage, ob Banken es sich leisten wollen, die Abschreibungen auf Wertpapiere in vollem Umfang zu buchen – oder ob sie es vorziehen, diese Wertpapiere aus dem Handels- in den Anlagebestand umzugliedern, für den solche Wertverluste nicht auszuweisen sind. Schon wird eine mögliche Diskrepanz in den Abschlüssen für 2022 prognostiziert: zwischen Häusern, welche die Abschreibungen voll verbuchen, und jenen, welche nur entsprechend reduzierte Verkehrswerte in den Anhang packen.

Eine klare Meinung vertritt in dieser Frage das IDW. „Eine Umgliederung aus dem Handelsbestand ist nur dann zulässig, wenn außergewöhnliche Umstände, insb. schwerwiegende Beeinträchtigungen der Handelbarkeit der Finanzinstrumente, zu einer Aufgabe der Absicht des Handels in Bezug auf in Rede stehenden Finanzinstrumente durch das Institut führen“, stellen die Wirtschaftsprüfer in einem „Fachlichen Hinweis“ klar. Recht unmissverständlich heißt es dort: „Ein Preisverfall allein beeinträchtigt nicht die Handelbarkeit. Damit sind vor allem Umgliederungen ausgeschlossen, die allein zur Gestaltung bzw. Glättung des Jahresergebnisses, also ausschließlich zur Vermeidung von Abwertungen, vorgenommen werden sollen.”

Ohnehin würde eine Umwidmung vom Handels- in den Anlagebestand nur die Belastung in der Bilanz vermeiden. Aus Perspektive der Bankenaufsicht wäre das Bild ein- und dasselbe. Manches Institut, das der Zinsanstieg unter Druck gesetzt hat, dürfte sich daher mit dem Gedanken an Bereinigungen in seinem Portfolio tragen.

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6. Droht der deutschen Wirtschaft die Finanzierung auszugehen?

Selbstredend hat der Risikoappetit der Banken in den vergangenen Monaten kräftig abgenommen. So wird zum Beispiel der LBBW nachgesagt, sie habe schon vor Wochen den Kredithahn praktisch zugedreht. Auf Anfrage lässt sich die Landesbank nicht aus der Reserve locken. Im Geschäft mit Unternehmenskunden flössen “selbstverständlich auch die konjunkturellen Entwicklungen in die jeweilige Kreditentscheidung mit ein”, heißt es wenig aussagekräftig. “Dabei berücksichtigen wir die individuelle Situation von Unternehmen und Branchen.” Aus der Bank ist derweil – im Einklang mit der jüngsten EZB-Umfrage zur Kreditvergabe – sehr wohl zu hören, dass das Institut mehr Vorsicht walten lässt. Wer wollte es ihm verdenken?

Tatsache ist auch, dass neue Vorgaben von EU-Kommission und EZB zum Umgang mit faulen Krediten die hiesigen Großbanken schon seit einiger Zeit dazu zwingen, für Not leidende Forderungen mehr Risikovorsorge zu bilden, wenn sie entsprechende Abzüge von ihrem Kernkapital vermeiden wollen.  Dies erhöht natürlich den Anreiz, Forderungen, die später faul werden könnten, am besten gar nicht erst aufs Buch zu nehmen.

Im Markt wird bereits vor einschneidenden Folgen gewarnt. Da ist die Rede von Perlen des Mittelstands, die nun allein mangels Prolongationen ihrer Kredite verscherbelt würden, mit all ihrem wertvollen Know-how, und das womöglich auch noch an Käufer aus China.

Allein: Ein Mangel an Finanzierungen oder gar eine Kreditklemme zählten bisher kaum zu den Problemen im Geschäft mit deutschen Firmenkunden. Natürlich gibt es keine Gewähr, dass jedes Unternehmen, das einen Kredit beantragt, eine Finanzierung erhalten wird. Doch der Markt gilt als chronisch überbesetzt. So hat sich fast jede Auslandsbank die Akquise mittelständischer Firmenkunden auf die Fahnen geschrieben. Und auch die deutschen Häuser balgen sich eher, grundsätzlich soliden Firmen das nötige Geld bereitzustellen. Daher ist das Gespenst einer Kreditklemme schneller an die Wand gemalt als dass es tatsächlich Realität wird. Auch das erinnert an die Zeit der Finanzkrise.

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